15. Törchen

...

Aber zurück zu Svenja. „Muss ich heute wieder rennen?“ Ich schüttle den Kopf. Sie registriert die Bewegung und nickt. „Was dann?“ - „Heute trainieren wir Gefühle.“ Sie stellt den Kopf schräg. Völlig lautlos. Die mechanischen Töne konnte ich bereits beheben. „Du meinst Gesichtsausdrücke. Ich habe keine Gefühle.“ Und hier liegt mein Problem. Motorisch ist Svenja bereits vielen Menschen überlegen, sie hat gestern den Weltrekord im Sprinten gebrochen. Aber sie hat Probleme damit, Gefühle zu zeigen, was ja künstliche Intelligenz ausmacht. Selber denken, selber handeln, selber fühlen. Bisher reagiert Svenja nur auf äussere Einflüsse. Sie muss gemerkt habe, dass etwas nicht stimmt, denn sie fragt: „Stimmt etwas nicht?“ Immerhin kann sie bereits die Gesichtsveränderung von Menschen interpretieren. Ich sehe sie an, das Training kann beginnen. Ich haue ihr auf die Hand. Prompt folgt ihre Reaktion. „Das war nicht höflich.“ Ihre Stimme ist immer noch ruhig. Ich schlage sie wieder. „Das ist nicht angebracht, hör auf damit.“ Klatsch. „Du sollst mich nicht schlagen.“ Klatsch. „Jegliche Ausdrücke von Gewalt sind von der Gesellschaft nicht toleriert.“ Diesmal fängt sie meine Hand ab und blickt mir direkt in die Augen. „Hör auf, Steve.“ Seufzend lasse ich meine Hand wieder sinken. Dann kommt mir eine Idee. „Svenja, was bin ich?“, frage ich sie und lächle. Sie scheint sich an den Themenwechsel gewöhnen zu müssen, denn sie schweigt eine Weile. „Du bist Lehrer“, antwortet sie. Ich ändere meinen Gesichtsausdruck. „Svenja, was bin ich?“, die Antwort kommt etwas schneller. „Ein Mann von 48 Jahren“. Ich ändere meine Strategie. „Svenja, wie fühlst du dich?“ Keine Antwort. Ich wiederhole meine Frage. Immer noch nichts. „Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragt sie mich nach einer Weile. Ich seufze. „Nein, alles ist ok.“ - „Hast du ein Problem?“ Ich schweige. Ja, ich habe tatsächlich ein Problem. Ich sitze allein in einer Wohnung einem Computer in Menschengestalt gegenüber, der meiner Exfrau sehr ähnlich sieht und versuche ihm beizubringen, Gefühle auszudrücken. Es ist drei Uhr morgens und vor meiner Tür steht eine Security-Guard, die aufpasst, dass niemand mich oder Svenja schädigt. Ende Jahr soll ich beweisen, dass künstliche Intelligenz existiert, aber ich habe nichts, abgesehen von dieser ruhigen und gefühllosen Stimme, einem überdurchschnittlich guten Spracherkennungsprogramm und sehr viel Speicherplatz, verknüpft mit halbguten logischen Gedankengängen, falls man das so nennen kann. Vorprogrammierte Bewegungsabläufe und Reaktionen, das ist alles, woraus Svenja besteht. Aber ich brauche Gefühle und Empathie. Echte, keine Reaktionen auf Befehle wie „Svenja, weine“ oder „Svenja, lache.“ Sie soll bei einer Komödie spontan lachen oder bei einer Beerdigung jemandem die Hand auf die Schulter legen und dabei weinen und ernstes Beileid ausdrücken können. Ein „Heute geht es mir gut“, oder ein „Ich bin traurig.“ Wäre das denn so viel verlangt? „Es ist kompliziert“, antworte ich. Sie blinzelt und nickt.

 

© Linda E. Wilhelm