20. Törchen

Aufwachen, aufstehen, sich bereit machen, arbeiten oder zur Schule gehen, nach Hause kommen, essen, schlafen, wiederholen. Jeden Tag. Wer hat denn gesagt, dass der Alltag immer fad sein muss? Genau. Niemand. Es hängt ganz allein von der Sichtweise der Dinge ab, wie man sie sieht und wie man sie erzählt. Denn das Leben ist ein Abenteuer das gelebt werden will, und in jedem von uns steckt ein Alltagsheld, der die Aufgaben des täglichen Lebens mit mehr oder weniger Geschick meistert, die Odyssee zur Arbeit oder Schule und zurück besteht und abends zurück in die Arme von jemandem kehrt, der auf ihn oder sie gewartet hat.

Alltagshelden ist das nächste Werk, an dem ich schreibe, neben der italienischen Übersetzung von Mordhof. Es ist eine Sammlung von Kurzgeschichten in denen alltägliche Szenen nicht ganz alltäglich erzählt werden. Dies ist ein Einblick in eine dieser Geschichten.

 

Er hört das Brummen von weit weg, das sich schnell nähert. Bald würde es ihn einholen und an ihm vorbei sein. Er sieht seinen Freund an, der ein wenig zurückgefallen ist. Auch er hat das Brummen erkannt. "Lauf! Halt ihn auf!" ruft der Freund, dann rennt unser Held los. Schon nach kurzem beschleunigt sich sein Atem, er ist es sich nicht gewohnt so schnell zu rennen, und der schwere Rucksack auf seinen Schultern macht es ihm auch nicht leichter. Er hört sein Herz laut pochen und das Blut in seinen Ohren rauschen. Seine Beine wollen nachgeben, aber er lässt es nicht zu und rennt weiter. Das Brummen hat ihn nun eingeholt. Er sieht kurz nach links und rechts und rennt keuchend über die Strasse ohne sich noch einmal umzudrehen. Er darf ihn nicht entkommen lassen, sonst ist alles für nichts gewesen. Er hört eine Hupe und Reifen quietschen, aber er läuft einfach weiter. Sein Freund hat recht, er muss ihn aufhalten. Er sieht nicht zurück, denn das hätte seinen Sprint verlangsamt und er kann es sich nicht leisten zu stolpern, weil er etwas nicht gesehen hat. Weit hinter sich hört er das Hecheln seines Freundes, der genauso sehr mit dem Rennen Mühe hat wie er. Alleine kann er es nicht bis zu ihm schaffen, aber es ist auch nicht nötig: Es reicht, wenn einer von ihnen das Ziel erreicht. Seine Seite sticht mit jedem Atemzug, aber er reisst sich zusammen. Er kann nachher wieder Atem holen. Das Brummen hat nachgelassen, dann setzt es wieder ein. "Neein!" ruft er ausser Atem, aber er wird nicht gehört. Seine Kraft verlässt ihn schlagartig und er bleibt stehen, beugt sich vornüber und stützt die Hände auf die Knie. Er hat versagt. Sein Freund holt ihn ein und legt eine Hand auf seine Schulter, die sich immer noch schnell hebt und senkt. Eine Zeit lang sagt keiner der beiden ein Wort. "Alles ok?" fragt schliesslich der Freund. Unser Held schüttelt den Kopf. Er hebt den Blick und sieht den brummenden Bus hinter der Kurve verschwinden. "Scheisse", murmelt der Freund, unser Held nickt zustimmend. Sie würden beide zu spät kommen.

 

© Linda E. Wilhelm

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Kommentare: 1
  • #1

    Julia (Mittwoch, 20 Dezember 2017 20:03)

    Wow, ich freue mich mega auf diese Kurzgeschichten!! Die erste ist bereits super gelungen! Habe den Schluss wirklich nicht erwartet ��